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Die Krise im deutschen Weinbau: Ursachen & Entwicklungen

Die deutsche Weinbranche durchlebt derzeit eine der tiefgreifendsten Krisen ihrer jüngeren Geschichte. Die Einschätzungen von Winzerin Julia Oswald, die sich offen zu Überproduktion, ruinöser Preisbildung und dem veränderten Konsumverhalten der Verbraucher äußert, treffen den Kern der Problematik – und finden breite Zustimmung in der Fachwelt wie auch in den vorliegenden Marktdaten.

Überproduktion trifft Absatzflaute: Ein Blick auf die Fakten

Die Weinwirtschaft ist mit einem historischen Nachfrageeinbruch konfrontiert. Laut Angaben des Deutschen Weininstituts sank der Pro-Kopf-Weinkonsum im Wirtschaftsjahr 2022/2023 auf 19,2 Liter bezogen auf die Gesamtbevölkerung. Bei den über 16-Jährigen lag der Wert bei 22,5 Litern – jeweils etwa eine Flasche weniger pro Kopf als im Vorjahr. Das mag auf den ersten Blick gering erscheinen, ist aber angesichts der seit Jahren rückläufigen Tendenz Teil eines gravierenden strukturellen Problems.

Besonders auffällig ist: Nur ein vergleichsweise kleiner Teil der Bevölkerung konsumiert regelmäßig Wein. Etwa 45 % der Deutschen trinken überhaupt keinen Wein. Die starke Abhängigkeit der Branche von einem schmalen, häufig älteren Kundenkreis macht sie verwundbar – vor allem in Zeiten wirtschaftlicher Unsicherheit.

Zugleich bleiben große Mengen Wein in den Kellern unverkauft. Laut Zahlen des Statistischen Bundesamts lagen die Lagerbestände 2023 bei über 1 Milliarde Litern – ein Höchstwert, der den Druck auf die Preise massiv erhöht. Die Folge: Die Marktmechanismen greifen nicht mehr – das Angebot übersteigt bei Weitem die Nachfrage.

Preise im freien Fall – und die Wirtschaftlichkeit auf der Kippe

In Anbaugebieten wie der Pfalz liegt der Fassweinpreis aktuell bei etwa 70 Cent pro Liter. Demgegenüber stehen durchschnittliche Produktionskosten von mindestens 1,20 Euro – ein eklatantes Missverhältnis. Selbst bei effizienter Betriebsführung lassen sich solche Lücken nicht dauerhaft durch Kostensenkung schließen.

Auch im Direktvertrieb und stationären Einzelhandel verzeichnen viele Betriebe Umsatzrückgänge. Zwar sind die Verbraucherpreise für Wein im Jahr 2022 um durchschnittlich 6,6 % auf 4,18 Euro pro Liter gestiegen – angesichts der deutlich höheren Produktions- und Nebenkosten (Glas, Energie, Löhne, Logistik, Verpackung) war dies aber bei Weitem nicht ausreichend. Der Lebensmitteleinzelhandel, traditionell ein wichtiger Absatzkanal, wird zunehmend von günstigeren Importweinen dominiert. Diese werden häufig aus Ländern mit niedrigeren Lohnkosten und weniger strengen Umweltauflagen bezogen – ein Wettbewerb, dem viele deutsche Betriebe kaum standhalten können.

Das Konsumverhalten verändert sich – und mit ihm der Markt

Neben wirtschaftlichen Faktoren ist auch ein gesellschaftlicher Wandel spürbar. Die jüngeren Generationen trinken bewusster, oft weniger Alkohol und interessieren sich verstärkt für Gesundheit, Nachhaltigkeit und alkoholfreie Alternativen. Selbst bei traditionellen Gelegenheiten wie Restaurantbesuchen, Familienfeiern oder Festen wird heute seltener zum Weinglas gegriffen – sei es aus gesundheitlichen, finanziellen oder kulturellen Gründen.

Hinzu kommt der demografische Wandel: Die sogenannten „Weinstammkunden“, also Menschen ab 50 aufwärts, die regelmäßig Wein kaufen und trinken, werden weniger. Gleichzeitig gelingt es der Branche nur bedingt, jüngere Zielgruppen dauerhaft zu binden. Marketingkampagnen verpuffen oft, weil sie nicht die Lebensrealität oder Werte der jungen Konsumenten treffen.

Reaktionen der Branche: Zwischen Rückbau und Neuanfang

Angesichts der dramatischen Lage werden zunehmend strukturelle Maßnahmen diskutiert. Einige Betriebe fordern staatlich geförderte Rodungsprämien – nicht als Kapitulation, sondern als aktives Mittel zur Angebotsregulierung. Der Rückbau von Rebflächen könnte dabei helfen, den Markt zu entspannen und die Qualität vor Quantität zu stellen.

Ein weiterer Vorschlag sind sogenannte „Rotationsbrachen“: das temporäre Stilllegen von Rebflächen, die stattdessen für biodiversitätsfördernde Blühflächen genutzt werden könnten. Das hätte nicht nur ökonomische, sondern auch ökologische Vorteile. Doch die bisher verfügbaren EU-Förderprogramme reichen nach Angaben vieler Winzer nicht aus, um die laufenden Fixkosten zu decken. Bürokratische Hürden und komplexe Antragsverfahren erschweren zusätzlich die Inanspruchnahme.

Andere Betriebe setzen verstärkt auf Diversifikation, etwa durch Erlebnistourismus, die Produktion alkoholfreier Weine oder Kooperationen mit Gastronomie und regionalen Manufakturen. Auch digitale Direktvertriebskanäle bieten neue Chancen – vorausgesetzt, die Betriebe sind technisch und personell entsprechend aufgestellt.

Fazit: Eine Krise mit vielen Ursachen – und (noch) Handlungsspielraum

Die aktuelle Lage in der deutschen Weinwirtschaft ist komplex. Überproduktion, ruinöse Preisbildung und ein gravierender Nachfragerückgang treffen auf strukturelle Probleme, die sich über Jahre aufgebaut haben. Verstärkt wird die Situation durch globale Wettbewerbsbedingungen, geopolitische Unsicherheiten, Inflation und einen tiefgreifenden gesellschaftlichen Wertewandel.

Trotz dieser Herausforderungen besteht noch Handlungsspielraum – aber nur, wenn Politik, Branchenverbände und die Winzerinnen und Winzer gemeinsam und entschlossen agieren. Es braucht neue Förderinstrumente, mehr Flexibilität, praxisnahe Innovationsförderung – und vielleicht auch ein gesellschaftliches Umdenken im Umgang mit einem Kulturgut wie Wein.

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