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Bürgergeld trotz Arbeit: Ursachen, Hintergründe

Immer mehr Erwerbstätige in Deutschland sind auf ergänzendes Bürgergeld angewiesen – obwohl sie einer regulären Beschäftigung nachgehen. Nachdem die Zahl der so genannten „Aufstocker“ seit Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 merklich zurückgegangen war, verzeichnet man 2024 erstmals wieder einen Anstieg.

1. Wer sind die Aufstocker – und was ist Bürgergeld?

Unter „Aufstockern“ versteht man Beschäftigte, deren Einkommen den individuellen Bedarf nicht deckt. Sie erhalten ergänzend Bürgergeld, das seit Januar 2023 das frühere Arbeitslosengeld II (Hartz IV) ersetzt.

  • Bedarfsgemeinschaften: Anspruch haben nicht nur Alleinstehende, sondern auch Familien und Wohngemeinschaften, die gemeinsam wirtschaften.
  • Einkommensanrechnung: Erwerbseinkommen wird zwar nicht vollständig auf das Bürgergeld angerechnet, doch liegen die Freibeträge so, dass ein Großteil des Mehrverdienstes wieder durch Kürzungen aufgezehrt wird.

2. Rückblick: Trendwende seit 2015

Mit Einführung des Mindestlohns (2015: 8,50 €/h) sank die Zahl der Aufstocker kontinuierlich:

JahrAufstocker (in Tsd.)Ausgaben für Aufstocker (in Mrd. €)
2015ca. 1 200
20237966,19
20248266,99

2024 erhielten demnach rund 826 000 Erwerbstätige ergänzendes Bürgergeld – eine Steigerung um 30 000 gegenüber 2023. Die Ausgaben stiegen um 800 Mio. € auf 6,99 Mrd. €.

3. Die treibenden Faktoren hinter dem Anstieg

3.1 Niedrige Löhne und Prekarität

Rund zwei Drittel der Aufstocker arbeiten in Niedriglohnsektoren, etwa im Einzelhandel, in der Gastronomie oder in der Gebäudereinigung. Fast die Hälfte ist in Minijobs oder Teilzeit geringfügig beschäftigt, häufig ohne Aussicht auf Aufstockung durch zusätzliche Arbeitsstunden.

3.2 Explodierende Lebenshaltungskosten

Inflation, steigende Mieten und Energiepreise haben das verfügbare Einkommen deutlich geschmälert. Selbst beim gesetzlichen Mindestlohn bilden die Freibeträge im Bürgergeld keine ausreichende Entlastung, um die Mehrkosten zu kompensieren.

3.3 Familien- und Lebensgemeinschaften

In vielen Bedarfsgemeinschaften reicht das Gesamteinkommen nicht, um den gemeinsamen Bedarf zu decken. Anders als im alten Hartz-IV-System wurden die Freibeträge bei Einführung des Bürgergelds zwar leicht erhöht, doch sind sie bei Mehrpersonen-Haushalten immer noch nicht ausreichend.

3.4 Strukturwandel am Arbeitsmarkt

Der Dienstleistungssektor wächst – oft mit unsicheren, befristeten Verträgen und niedrigem Lohnniveau. Neue Geschäftsmodelle (z. B. Plattformarbeit) führen zu weniger Standardarbeitsverträgen und damit zu weniger sozialer Absicherung.

3.5 Wirkungen der Bürgergeld-Regelungen

Obwohl das Bürgergeld prinzipiell höhere Freibeträge für Erwerbseinkommen vorsieht, fallen viele Zuverdienste wieder weg. Wer beispielsweise zusätzlich 200 € monatlich verdient, behält darauf nur rund 80 €, der Rest wird abgezogen. Damit fehlt für einen echten Anreiz, mehr zu arbeiten.

4. Politische Konturen: Mindestlohn-Debatte und Sozialpolitik

Die aktuellen Zahlen heizen die Diskussion um den gesetzlichen Mindestlohn neu an:

  • Befürworter (Gewerkschaften, Linke-Abgeordnete) plädieren für eine Anhebung auf 15 € pro Stunde, um Aufstockungen überflüssig zu machen und Erwerbsarbeit existenzsichernd zu gestalten.
  • Gegner (Arbeitgeberverbände, einige Ökonomen) warnen vor möglichen Jobverlusten und Wettbewerbsnachteilen kleinerer Betriebe.

Zudem wird darüber diskutiert, ob die Zumutbarkeitsregeln beim Bürgergeld zu hart sind oder die Kinderbetreuung und Weiterbildung konsequenter gefördert werden sollten.

5. Handlungsoptionen: Was jetzt zu tun ist

  1. Mindestlohn reformieren • Sofortige Anhebung, perspektivisch 15 €/h. • Staffelungen nach Branchen und Qualifikationsniveau, um regionalen Unterschieden gerecht zu werden.
  2. Einkommensanrechnung verbessern • Höhere Freibeträge für zusätzliche Erwerbseinkommen, um Anreize zu setzen. • Sonderregelungen für Alleinerziehende und Geringverdienende in Minijobs.
  3. Lebenshaltungskosten abfedern • Mietpreisbremse konsequent umsetzen und bezahlbaren Wohnraum ausbauen. • Energiepreisdeckel für sozial Schwache.
  4. Qualifizierung und Mobilität fördern • Kostenlose Weiterbildung und Umschulung für Niedriglohn-Beschäftigte. • Ausbau von Mobilitätszuschüssen und ÖPNV-Tickets.
  5. Familienfreundlichkeit stärken • Flexible, bedarfsgerechte Kinderbetreuung. • Ausbau von Ganztagsschulen und Ferienbetreuung.

Fazit: Arbeit schützt nicht automatisch vor Armut

Die Zahl der Aufstocker ist ein Alarmsignal für die prekären Bedingungen im unteren Einkommensbereich. Ein Modernisierungsschub bei Mindestlohn und Bürgergeld-Regelungen sowie ein stärkerer Fokus auf Bildung und Infrastruktur sind unumgänglich, wenn Arbeit wieder wirklich vor Armut schützen soll.

Die Frage lautet nicht länger, ob, sondern wie wir in Deutschland die Verbindung von Erwerbsarbeit und sozialer Sicherheit nachhaltig stärken.

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