Die USA und das Verbot von Klassikern – Zwischen kultureller Kontrolle und Meinungsfreiheit
Die Schlagzeile klingt alarmierend: Die USA „entledigen sich ihrer Klassiker“, heißt es in Kommentaren und sozialen Netzwerken, wenn es um Buchverbote an Schulen und in Bibliotheken geht. Was auf den ersten Blick übertrieben scheinen mag, offenbart bei genauerem Hinsehen ein vielschichtiges und hochaktuelles Problem. Tatsächlich erleben die Vereinigten Staaten eine Welle von Zensurmaßnahmen, wie sie seit der McCarthy-Ära kaum mehr zu beobachten war. Dabei geraten nicht nur moderne Werke mit gesellschaftspolitischem Anspruch ins Visier, sondern auch literarische Klassiker von Weltrang.
Eine neue Welle der Zensur
Laut einem Bericht der Organisation PEN America wurden seit 2021 mehr als 16.000 dokumentierte Fälle von Buchverboten an öffentlichen Schulen registriert – eine Zahl, die drastisch an die antikommunistische Paranoia der 1950er Jahre erinnert. Während damals vermeintlich staatsfeindliche Inhalte im Fokus standen, geht es heute oft um Bücher, die Themen wie Rassismus, Geschlechteridentität, sexuelle Orientierung oder soziale Ungleichheit behandeln.
Beunruhigend ist dabei nicht nur die Anzahl der betroffenen Werke, sondern auch deren literarische Bedeutung. Zu den besonders häufig verbannten Büchern zählen unter anderem George Orwells dystopischer Klassiker 1984, Harper Lees To Kill a Mockingbird, Margaret Atwoods The Handmaid’s Tale und Ray Bradburys Fahrenheit 451 – ausgerechnet ein Roman, der sich kritisch mit Bücherverbrennungen und staatlicher Zensur auseinandersetzt.
Schwerpunktstaaten und ideologische Agenden
Ein Blick auf die Verteilung der Zensurmaßnahmen zeigt eine starke Konzentration auf bestimmte Bundesstaaten. In der Schuljahrsaison 2023/2024 entfielen laut PEN America etwa 45 % aller dokumentierten Verbote auf Florida, gefolgt von Iowa mit rund 36 %. Diese Entwicklungen sind keineswegs zufällig, sondern Ergebnis gezielter politischer Strategien. Konservative Gruppen, oft mit enger Anbindung an politische Entscheidungsträger, nutzen Gesetzesinitiativen wie „Parents’ Rights Acts“ oder „Curriculum Transparency Bills“, um Einfluss auf Schulbibliotheken und Lehrpläne zu nehmen.
Klassiker unter Beschuss – warum?
Die Begründungen für die Verbote wirken oft vage oder willkürlich. Alice Walkers Die Farbe Lila wird wegen „expliziter Inhalte“ entfernt, John Steinbecks Von Mäusen und Menschen wegen „veralteter Sprache“, und F. Scott Fitzgeralds Der große Gatsby wegen angeblich „problematischer Genderrollen“. Auch Aldous Huxleys Brave New World wurde in mehreren Schulbezirken kritisiert – ironischerweise häufig wegen seiner dystopischen Darstellung einer manipulierten Gesellschaft, die angeblich zu „negativ“ sei. Wiederholt wird auch angeführt, dass bestimmte Bücher „nicht altersgerecht“ seien – ein dehnbarer Begriff, der vielfach zur Durchsetzung ideologischer Interessen genutzt wird.
Juristische Entwicklungen mit weitreichenden Folgen
Ein Wendepunkt in der rechtlichen Bewertung kam im Mai 2025: Das Bundesberufungsgericht des Fifth Circuit entschied mit knapper Mehrheit (10 zu 7), dass staatliche Stellen Bücher aus öffentlichen Bibliotheken entfernen dürfen, wenn ihnen deren Inhalte missfallen – selbst ohne Nachweis objektiver Schädlichkeit oder Rechtsverletzung. Dieses Urteil wird von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie der American Civil Liberties Union (ACLU) oder Freedom to Read Foundation als eklatante Bedrohung der Meinungsfreiheit gewertet. Kritiker sprechen von einem „grünen Licht für ideologisch motivierte Eingriffe in den öffentlichen Bildungsauftrag“.
Die Gegenbewegung: Proteste und Aufklärung
Doch der Widerstand wächst. Die American Library Association (ALA) verzeichnete allein im Jahr 2024 über 2.400 einzigartige Titel, die Ziel von Zensurversuchen waren – ein Anstieg um mehr als 60 % gegenüber dem Vorjahr. Besonders bemerkenswert: Rund 72 % dieser Fälle gehen laut ALA auf das Konto organisierter Interessengruppen, die gezielt ganze Buchlisten zur Prüfung einreichen – oft ohne die Werke je gelesen zu haben.
Im September findet alljährlich die „Banned Books Week“ statt – 2025 unter dem bezeichnenden Motto: „Censorship Is So 1984“. Schulen, Bibliotheken und Buchhandlungen setzen damit ein Zeichen für das Recht auf freien Zugang zu Informationen und kulturelle Vielfalt.
Regierungssicht und bildungspolitische Polarisierung
Das US-Bildungsministerium hat Anfang 2025 Vorwürfe der Zensur zurückgewiesen und betont, lokale Schulverwaltungen hätten das Recht, Bücher zu entfernen, die „altersunangemessen“ seien. Kritiker bemängeln, dass diese Einschätzung faktisch zur Legitimierung ideologischer Einflussnahme führt – besonders, wenn sie nicht pädagogisch, sondern parteipolitisch motiviert ist. Der Zugang zu kulturell und historisch relevanter Literatur wird dadurch massiv eingeschränkt, insbesondere für Schüler:innen marginalisierter Gruppen.
Fazit: Kulturkampf um das Regal
Die Behauptung, die USA würden sich „ihrer Klassiker entledigen“, wirkt auf den ersten Blick übertrieben – und trifft doch in beunruhigendem Maße zu. Was einst als gesicherter Bestandteil literarischer Bildung galt, wird zunehmend infrage gestellt oder verbannt. Es ist ein Kulturkampf, der nicht nur um Bücher, sondern um Werte, Geschichte und Zukunft geführt wird. Die Grenze zwischen Jugendschutz und politischer Einflussnahme verschwimmt – und mit ihr die Vorstellung, dass Bildung ein freier und offener Raum für Reflexion und Diskussion sein sollte.
Wer sich selbst ein Bild machen möchte, dem seien die regelmäßig aktualisierten Verbotslisten von PEN America und der American Library Association empfohlen. Denn Wissen ist – gerade in Zeiten wachsender Kontrolle – die beste Verteidigung gegen Zensur.

Anmerkung zu den Links
Obwohl das Nutzen der Links in erster Linie kostenlos ist, gibt es auch Angebote die nur kostenpflichtig genutzt werden können. In diesem Fall kann es eine kleine Provision für den Seitenbetreiber geben.

