Richterbund fordert unabhängige Staatsanwälte: Wie politisch ist die deutsche Strafjustiz?
Die Diskussion über die politische Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaften in Deutschland flammt erneut auf. In den vergangenen Wochen hat der Deutsche Richterbund (DRB) eindringlich vor einem potenziell gefährlichen Einfluss politischer Akteure auf staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gewarnt. Aus Sicht des DRB ist die derzeitige Rechtslage nicht mehr zeitgemäß und birgt erhebliche Risiken – insbesondere im Hinblick auf mögliche Machtverschiebungen zugunsten extremistischer Parteien.
Die derzeitige Rechtslage: Weisungsgebundenheit statt institutioneller Unabhängigkeit
Im Gegensatz zu Richtern, die nach dem Grundgesetz (Art. 97 Abs. 1 GG) unabhängig sind und nur dem Gesetz unterstehen, sind Staatsanwältinnen und Staatsanwälte in Deutschland hierarchisch in die Exekutive eingebunden. Sie unterliegen gemäß §§ 146, 147 Gerichtsverfassungsgesetz (GVG) dem Weisungsrecht der Justizministerien – sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene.
Diese Weisungen können sich nicht nur auf allgemeine Richtlinien beziehen, sondern auch Einzelfälle betreffen. Zwar wird in der Praxis von Letzterem selten Gebrauch gemacht, die bloße Möglichkeit dazu erzeugt jedoch Misstrauen – vor allem mit Blick auf potenzielle politische Einflussnahme. Diese Regelung stellt innerhalb Europas eine Besonderheit dar: In vielen EU-Mitgliedstaaten, etwa in Italien, Spanien oder Frankreich, ist die Staatsanwaltschaft institutionell unabhängiger organisiert.
Europäische Kritik: Zweifel an der Unabhängigkeit deutscher Staatsanwaltschaften
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat 2019 ein wegweisendes Urteil gefällt: Aufgrund ihrer Weisungsgebundenheit seien deutsche Staatsanwaltschaften nicht unabhängig im Sinne des EU-Rechts. Insbesondere in Bezug auf den Europäischen Haftbefehl stellte der EuGH fest, dass deutsche Staatsanwälte keine „ausstellende Justizbehörde“ im Sinne des Rahmenbeschlusses seien. Diese Entscheidung hatte erhebliche Auswirkungen auf die grenzüberschreitende Strafverfolgung und warf ein Schlaglicht auf die institutionellen Defizite innerhalb der deutschen Justizstruktur.
Warnungen vor politischer Einflussnahme: Einfallstor für Extremisten?
Der DRB bringt insbesondere die Sorge vor einem Missbrauch des Weisungsrechts durch extremistische oder autoritär agierende Parteien zum Ausdruck. Sollte beispielsweise eine rechtspopulistische Partei wie die AfD künftig ein Justizministerium übernehmen, bestünde die Möglichkeit, Ermittlungen gegen politische Gegner zu verhindern oder gezielt zu initiieren. Bereits der „böse Anschein“ einer politischen Einflussnahme könne das Vertrauen in die Integrität der Strafverfolgung nachhaltig erschüttern, betont DRB-Bundesgeschäftsführer Sven Rebehn.
Reformvorschläge: Zwischen Transparenzpflicht und struktureller Unabhängigkeit
Zwar ist die Problematik seit Jahren bekannt, grundlegende Reformen sind jedoch bislang ausgeblieben. Die FDP brachte 2019 einen Gesetzentwurf zur Abschaffung des Weisungsrechts im Einzelfall ein – ohne Erfolg. Auch im Koalitionsvertrag der Ampelregierung wurde lediglich vereinbart, ministerielle Weisungen künftig schriftlich zu dokumentieren. Dies wäre ein erster Schritt zu mehr Transparenz, jedoch kein Bruch mit dem bisherigen System.
Ein innovativerer Ansatz stammt aus Nordrhein-Westfalen: Dort wurde ein Modell vorgeschlagen, das Weisungen auf Fälle klarer Rechtsfehler beschränkt. Dieses Konzept findet Zuspruch bei vielen Juristen und Verbänden, da es eine Balance zwischen staatlicher Aufsicht und institutioneller Unabhängigkeit anstrebt.
Die Debatte innerhalb der Justiz: Zwischen Dienstaufsicht und Unabhängigkeit
Gegner einer vollständigen Abschaffung des Weisungsrechts argumentieren, dass die Staatsanwaltschaft weiterhin Teil der Exekutive sei und einer effektiven Leitungsstruktur unterliegen müsse. Nur so könne eine einheitliche Rechtsanwendung gewährleistet werden. Justizministerien wiederum berufen sich auf ihre demokratische Legitimation: Sie seien politisch verantwortlich für das Handeln der Strafverfolgungsbehörden.
Gleichzeitig zeigt sich jedoch innerhalb der Justiz ein wachsender Reformwille. In Umfragen und auf rechtspolitischen Tagungen äußerten viele Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sowie Richterinnen und Richter ihre Unzufriedenheit mit dem Status quo. Die Neue Richtervereinigung kritisiert, dass Deutschland die europäischen Mindeststandards zur Unabhängigkeit der Justiz nicht einhalte – ein klarer Reformappell.
Verfassungsrechtliche Einordnung: Zwischen Gewaltenteilung und Rechtsstaatsprinzip
Verfassungsrechtlich bewegt sich die Diskussion auf komplexem Terrain: Die Einbindung der Staatsanwaltschaft in die Exekutive ist historisch gewachsen und wurde vom Bundesverfassungsgericht bislang nicht grundsätzlich beanstandet. Gleichwohl verlangt das Rechtsstaatsprinzip eine funktional unabhängige Strafverfolgung. Die Spannung zwischen effektiver Staatsaufsicht und notwendiger Unabhängigkeit bleibt damit ein ungelöstes Dilemma.
Fazit: Die Forderung nach unabhängigen Staatsanwälten ist mehr als Symbolpolitik
Die Forderung des Deutschen Richterbundes nach einer unabhängigen Staatsanwaltschaft ist nicht nur juristisch fundiert, sondern auch demokratiepolitisch hoch relevant. In Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung und wachsender Bedrohung durch extremistische Kräfte ist es essenziell, die institutionelle Integrität der Justiz zu stärken.
Die nächste Justizministerkonferenz wird zeigen, ob der politische Wille ausreicht, um konkrete Reformschritte einzuleiten. Eines ist klar: Die Unabhängigkeit der Staatsanwaltschaft ist keine technische Frage, sondern ein Grundpfeiler des Rechtsstaats – und als solcher von zentraler Bedeutung für das Vertrauen der Bevölkerung in eine unparteiische und gerechte Strafverfolgung.