Merz fordert mehr Arbeit – ignoriert er das Ehrenamt?
Kennen Sie das Gefühl, nach einem langen Arbeitstag noch schnell zum Sportverein zu hetzen, um die Jugendmannschaft zu trainieren? Oder am Wochenende bei der Tafel auszuhelfen, während andere ausschlafen? Ich schon – und ich bin damit nicht allein.
Während unser neuer Bundeskanzler Friedrich Merz in seiner ersten Regierungserklärung fordert, „wieder mehr und vor allem effizienter zu arbeiten“, frage ich mich: Wer sind eigentlich die Menschen, die längst mehr arbeiten – nur eben unbezahlt, freiwillig und oft unsichtbar? Und was passiert mit unserer Gesellschaft, wenn dieses Engagement immer weniger wird?
Ehrenamt: Viel Arbeit, die nicht auf dem Gehaltszettel steht
Rund 16,4 Millionen Menschen engagieren sich in Deutschland ehrenamtlich. Sie löschen Brände, organisieren Dorffeste, trainieren Fußballteams, betreuen ältere Menschen oder engagieren sich in Kirchen und Vereinen. Ohne sie würde unser gesellschaftliches Leben schlichtweg nicht funktionieren.
Doch diese Zahlen sind rückläufig. Laut dem Deutschen Freiwilligensurvey ist der Anteil der ehrenamtlich Engagierten seit 2014 um etwa drei Prozentpunkte gesunken. Besonders betroffen: das Engagement in der Jugendarbeit und im sozialen Bereich. Und wussten Sie, dass über die Hälfte aller Ehrenamtlichen Frauen sind? Gerade in den Kirchen und im sozialen Bereich liegt ihr Anteil sogar noch höher. Sie stemmen oft nicht nur die unbezahlte Sorgearbeit zu Hause, sondern auch die für die Gesellschaft – zusätzlich zur Teilzeitarbeit oder nach Feierabend.
Mehr Erwerbsarbeit – weniger Gemeinsinn?
Wenn nun der Kanzler längere Arbeitszeiten fordert und die Work-Life-Balance zur „Modeerscheinung“ erklärt, frage ich mich: Wer soll dann noch Zeit und Kraft fürs Ehrenamt haben? Schon heute klagen viele Vereine über Nachwuchsmangel, Feuerwehren suchen händeringend Freiwillige, und in den Tafeln fehlen Helfer.
Das Problem ist nicht Faulheit, sondern Zeitmangel – und eine gesellschaftliche Schieflage in der Wertschätzung von Arbeit. Denn Arbeit ist mehr als Erwerb. Sie ist auch Fürsorge, Gemeinschaft, Verantwortung. Sie stiftet Sinn – und manchmal rettet sie sogar Leben.
Arbeit braucht Pausen – und Anerkennung
Vielleicht kennen Sie das biblische Gebot: „Am siebten Tag sollst du ruhen.“ Es ist älter als jede Tarifverhandlung und erinnert uns daran, dass produktive Arbeit und Erholung zusammengehören. Wer ehrenamtlich tätig ist, weiß: Diese Arbeit ist nicht nur unbezahlt, sondern oft auch unbezahlbar. Sie braucht Zeit, Freiraum – und eine Gesellschaft, die sie anerkennt.
Demografie, Fachkräftemangel und die Zukunft des Engagements
Die Herausforderungen werden größer: Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente, der Fachkräftemangel wächst, und immer mehr Jugendliche verlassen die Schule ohne Abschluss (2024: 5,9 Prozent laut Statistischem Bundesamt). Mehr Erwerbsarbeit zu fordern, während die Menschen fehlen, ist ein Widerspruch. Und wenn Überlastung und Stress zunehmen, steigt die Zahl der Krankmeldungen – das Arbeitsvolumen schrumpft weiter.
Dabei könnten flexiblere Arbeitszeiten und echte Wertschätzung für gesellschaftliches Engagement die Lösung sein. Sie schaffen nicht nur Raum für Ehrenamt, sondern machen auch Unternehmen produktiver. Eine Win-win-Situation, die wir nutzen sollten.
Was bleibt – und was zu tun ist
Vielleicht liegt in der aktuellen Debatte auch eine Chance: Die Generation der Babyboomer, die bald aus dem Erwerbsleben ausscheidet, könnte ihr Wissen und ihre Energie ins Ehrenamt einbringen – wenn wir ihnen dafür den nötigen Freiraum lassen.
Deshalb frage ich Sie: Was ist uns als Gesellschaft wirklich wichtig? Wollen wir Arbeit nur an Lohn und Produktivität messen – oder auch an Zusammenhalt, Fürsorge und Lebensqualität?
Meine Forderung an die Politik: Wer „mehr Arbeit“ verlangt, muss auch das Ehrenamt stärken – durch flexible Arbeitsmodelle, bessere Anerkennung und gezielte Förderung. Denn ohne das freiwillige Engagement von Millionen Menschen droht unser Gemeinwesen zu erodieren.
Arbeit ist mehr als Erwerb. Sie ist das, was uns als Gesellschaft zusammenhält. Lassen wir uns das nicht aus der Hand nehmen.