Warum werden so viele Menschen im Urlaub krank?
Ein tiefer Blick in das unterschätzte Phänomen „Leisure Sickness“
Endlich Urlaub. Die Koffer sind gepackt, der Abwesenheitsassistent ist aktiviert, und die Gedanken kreisen um Erholung, Sonne und Entspannung. Doch kaum ist der erste freie Tag angebrochen, meldet sich der Körper: Kopfschmerzen, Müdigkeit, Gereiztheit – oder gleich eine handfeste Erkältung. Was wie ein schlechter Scherz klingt, ist für viele Menschen bittere Realität. Eine aktuelle Studie der IU Internationalen Hochschule zeigt: Rund 72 Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland haben bereits erlebt, dass sie ausgerechnet an freien Tagen oder im Urlaub krank oder erschöpft wurden.
Was steckt hinter diesem paradoxen Phänomen? Und warum scheint es in unserer modernen Arbeitswelt immer häufiger aufzutreten?
Leisure Sickness – Wenn der Körper in der Freizeit rebelliert
Der Begriff „Leisure Sickness“ – auf Deutsch auch als Freizeit- oder Wochenendkrankheit bekannt – wurde erstmals Anfang der 2000er Jahre von niederländischen Psychologen geprägt. Er beschreibt eine Reihe körperlicher und psychischer Beschwerden, die bevorzugt an Wochenenden, Feiertagen oder im Urlaub auftreten. Typische Symptome sind:
- Erschöpfung und bleierne Müdigkeit
- Schlafstörungen trotz Ruhe
- Reizbarkeit und emotionale Labilität
- Kopfschmerzen oder Migräne
- Erkältungsähnliche Symptome wie Halsschmerzen oder Schnupfen
Die erwähnte Studie befragte rund 2.000 Personen im Alter zwischen 16 und 65 Jahren. Über ein Drittel berichtete von starker Müdigkeit an freien Tagen, mehr als ein Viertel von Schlafproblemen. Besonders alarmierend: Jeder Fünfte erlebt diese Beschwerden regelmäßig.
Was sind die Ursachen? Ein Zusammenspiel aus Körper, Psyche und Gesellschaft
1. Biologische Reaktionen auf Stressabbau
Während intensiver Arbeitsphasen befindet sich der Körper im sogenannten „Alarmmodus“. Stresshormone wie Adrenalin und Cortisol halten uns leistungsfähig, fokussiert – aber auch angespannt. Fällt dieser Stress plötzlich weg, etwa zu Beginn des Urlaubs, gerät das fein austarierte Gleichgewicht durcheinander. Das Immunsystem, das zuvor durch Stress unterdrückt wurde, reagiert verzögert – Krankheitserreger, die der Körper zuvor erfolgreich abgewehrt hat, können nun Symptome auslösen. Fachleute sprechen hier von einer „Regulationsstörung“ des vegetativen Nervensystems.
2. Psychosoziale Faktoren und die moderne Arbeitskultur
Ein Drittel der Befragten nennt hohen Arbeitsdruck als Hauptursache. Noch gravierender: Über die Hälfte fühlt sich durch ständige Erreichbarkeit auch außerhalb der Arbeitszeit in ihrer Erholung beeinträchtigt. Besonders betroffen ist die sogenannte Generation Z. Für viele junge Berufstätige ist das Smartphone nicht nur Kommunikationsmittel, sondern auch ein Symbol permanenter Verfügbarkeit. Die Erwartung, jederzeit erreichbar und leistungsbereit zu sein, verhindert echte mentale Regeneration.
3. Der Wandel der Freizeitgestaltung
Hinzu kommt ein kultureller Wandel in der Art, wie wir unsere Freizeit verbringen. Passive Aktivitäten wie Serienmarathons, endloses Scrollen durch soziale Medien oder zielloses „Chillen“ werden zwar als entspannend empfunden, fördern jedoch laut Forschung keine nachhaltige Erholung. Stattdessen empfehlen Expertinnen und Experten sogenannte „aktive Erholungsformen“ – Tätigkeiten, die Körper und Geist sanft fordern, wie Kochen, Spazierengehen, kreative Hobbys oder moderater Sport.
Ein Phänomen auf dem Vormarsch
Die Entwicklung ist besorgniserregend: Während im Jahr 2002 nur etwa 3–4 Prozent der Befragten unter Leisure Sickness litten, sind es heute laut aktuellen Studien rund 70 Prozent. Diese drastische Zunahme lässt sich nicht allein durch veränderte Arbeitsbedingungen erklären. Vielmehr spielen auch digitale Dauererreichbarkeit, gesellschaftlicher Leistungsdruck und ein wachsendes Unvermögen zur Selbstfürsorge eine zentrale Rolle.
Was können Sie tun? – Strategien für echte Erholung
Professorin Stefanie André, Expertin für Arbeitspsychologie, empfiehlt einen bewussteren Umgang mit Freizeit und Stress. Ihre Tipps für nachhaltige Erholung lauten:
- Regelmäßige Pausen im Alltag: Kleine Auszeiten helfen, Stress gar nicht erst chronisch werden zu lassen.
- Aktive Erholung bevorzugen: Tätigkeiten wie Kochen, Spazierengehen, Lesen oder kreative Hobbys fördern die Regeneration.
- Digitale Auszeiten einplanen: Handy und Laptop bewusst beiseitelegen – besonders am Abend und an freien Tagen.
- Klare Grenzen setzen: Arbeitszeiten definieren, Erreichbarkeit einschränken – und das auch kommunizieren.
- Achtsamkeit üben: Auf die eigenen Bedürfnisse hören, statt sich von äußeren Erwartungen treiben zu lassen.
Fazit: Ein gesellschaftliches Symptom mit vielen Ursachen
Leisure Sickness ist kein individuelles Versagen, sondern ein Spiegel unserer Zeit. Die Symptome sind real, die Ursachen komplex – und sie reichen von biologischen Stressreaktionen über digitale Überforderung bis hin zu einer Kultur, die Erholung oft mit Untätigkeit verwechselt. Wer dem Teufelskreis entkommen möchte, muss lernen, Freizeit nicht nur als „Nicht-Arbeit“, sondern als aktive Phase der Regeneration zu begreifen.
Sich selbst Pausen zuzugestehen, ist kein Zeichen von Schwäche – sondern ein Akt der Selbstfürsorge. Und vielleicht ist genau das der wichtigste Schritt zu einem gesünderen Umgang mit Arbeit, Freizeit und dem eigenen Wohlbefinden.