Der Streit um die Verfassungsrichterwahl: Kontroverse um Frauke Brosius-Gersdorf?
Ein juristisch-politischer Showdown um Grundrechte, Pandemiepolitik und das Selbstverständnis des Verfassungsgerichts
In der kommenden Woche soll ein neuer Posten am höchsten deutschen Gericht besetzt werden – und schon jetzt entlädt sich an der Nominierung der Juraprofessorin Frauke Brosius-Gersdorf ein veritabler Streit innerhalb der schwarz-roten Regierungskoalition. Im Zentrum der Debatte: nicht nur eine Personalie, sondern fundamentale Fragen über das Verhältnis von Staat und Individuum, über die Nachwirkungen der Corona-Pandemie und über den künftigen Kurs des Bundesverfassungsgerichts.
Wer ist Frauke Brosius-Gersdorf – und warum polarisiert sie?
Frauke Brosius-Gersdorf ist Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Potsdam und eine anerkannte Expertin für Staatsrecht sowie Bioethik. Sie war Mitglied in verschiedenen wissenschaftlichen Beiräten und Ethikkommissionen und hat sich in den vergangenen Jahren regelmäßig zu verfassungsrechtlichen Fragestellungen geäußert – auch während der Corona-Pandemie.
Damals sprach sie sich in Gastbeiträgen und Interviews differenziert für eine berufsbezogene Impfpflicht aus – insbesondere im Gesundheits- und Pflegebereich. Ihr Argument: Der Staat sei unter bestimmten Bedingungen nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, besonders gefährdete Bevölkerungsgruppen zu schützen. Der Eingriff in das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit sei dabei verhältnismäßig und durch das übergeordnete Ziel – den Schutz vulnerabler Personen – zu rechtfertigen.
Diese Position entspricht im Kern der späteren Gesetzgebung, etwa der zeitlich begrenzten Impfpflicht für Beschäftigte in medizinischen Einrichtungen (§ 20a IfSG), die 2022 in Kraft trat und vom Bundesverfassungsgericht bestätigt wurde.
Die Kritik: Rückblickende Bewertung oder ideologischer Konflikt?
Insbesondere aus der CDU, allen voran von der brandenburgischen Bundestagsabgeordneten Saskia Ludwig, kommt nun scharfer Widerstand gegen die SPD-Kandidatin. Der Vorwurf: Brosius-Gersdorf sei „unwählbar“, da sie sich für „staatliche Zwangsmaßnahmen“ ausgesprochen habe. Ludwig sieht darin einen Bruch mit dem Schutz individueller Grundrechte – vor allem mit Blick auf das Grundverständnis eines Verfassungsrichters, der staatliche Eingriffe kritisch hinterfragen müsse.
Hinzu kommt eine rückblickende Neubewertung der Pandemiepolitik: Kritiker argumentieren, dass die damaligen Einschätzungen zur Wirksamkeit der Impfstoffe überholt seien und viele Grundrechtseingriffe – insbesondere Lockdowns und Zugangsbeschränkungen – im Nachhinein nicht mehr verhältnismäßig erschienen. Daraus wird abgeleitet, Brosius-Gersdorfs juristische Beurteilung sei nicht nur politisch umstritten, sondern auch wissenschaftlich fragwürdig gewesen.
Doch diese Argumentation greift zu kurz. Denn Verfassungsrechtliche Bewertungen erfolgen ex ante – also auf Grundlage des damaligen Wissensstands. Brosius-Gersdorf hat sich nie für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen, sondern für begrenzte Maßnahmen mit hoher Schutzwirkung. Ihre juristische Argumentation war dabei stets an Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und dem Schutzauftrag des Staates orientiert.
Was steckt wirklich hinter dem Streit?
Tatsächlich geht es hier um weit mehr als um eine Meinungsverschiedenheit zur Pandemiebekämpfung. Die Auseinandersetzung berührt grundlegende Fragen:
- Wie weit darf der Staat in Krisenzeiten in Grundrechte eingreifen?
- Welche Rolle soll das Bundesverfassungsgericht in künftigen gesellschaftlichen Ausnahmesituationen spielen?
- Welche juristischen Leitbilder und politischen Grundhaltungen sollen im höchsten Gericht vertreten sein?
Die Wahl von Verfassungsrichter:innen erfolgt in Deutschland politisch – auch wenn sie formal auf Sachkompetenz und Integrität ausgerichtet ist. Die großen Parteien verhandeln Kandidaturen in gegenseitigem Einvernehmen, häufig entlang ideologischer Linien. Entsprechend ist jede Personalentscheidung auch Ausdruck eines politischen Kräfteverhältnisses.
Die Union befürchtet offenbar, dass mit Brosius-Gersdorf eine Vertreterin einer aktiv staatlichen, grundrechtsbejahenden Interventionspolitik ins Gericht einzieht – mit möglichen Auswirkungen auf künftige Urteile zu Themen wie Klima, Gesundheit, Migration oder Sozialpolitik.
Ein Stellvertreterkonflikt unserer Zeit
Der Fall Brosius-Gersdorf steht exemplarisch für die tiefere Spaltung, die sich seit der Corona-Krise in vielen westlichen Demokratien zeigt. Auf der einen Seite: die Befürworter eines handlungsfähigen Staates, der kollektive Verantwortung betont. Auf der anderen Seite: diejenigen, die in jeder Ausweitung staatlicher Befugnisse eine Gefahr für individuelle Freiheit und demokratische Selbstbestimmung sehen.
Beide Perspektiven haben ihre Berechtigung – doch sie kollidieren besonders heftig, wenn es um das Bundesverfassungsgericht geht. Denn dieses ist nicht nur Hüter der Grundrechte, sondern auch ein moralisches Korrektiv und Stabilitätsanker in Krisenzeiten. Wer hier sitzt, prägt nicht nur Urteile, sondern auch das verfassungsrechtliche Selbstverständnis des Landes.
Fazit: Eine Wahl mit Signalwirkung
Die Debatte um Frauke Brosius-Gersdorf ist kein bloßer Personalstreit. Sie ist ein Lackmustest für das demokratische Selbstverständnis im Nachgang der Corona-Pandemie. Sie wirft die Frage auf, welche Lehren wir aus der Krise ziehen – und wie wir künftig den Balanceakt zwischen Freiheit und Schutz, zwischen individueller Selbstbestimmung und kollektiver Verantwortung verfassungsrechtlich bewerten wollen.
Egal wie die Abstimmung ausgeht – sie wird ein Signal senden: über das Vertrauen in staatliche Institutionen, über den Umgang mit Krisen und darüber, wie wir die Rolle unseres höchsten Gerichts in einer Zeit wachsender gesellschaftlicher Unsicherheit verstehen wollen.

