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Europas KI-Gesetze: Siemens und SAP fordern einen grundlegenden Neustart

Die Debatte um die europäische Regulierung Künstlicher Intelligenz (KI) hat eine neue Eskalationsstufe erreicht. In einem aufsehenerregenden Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) üben die Vorstandsvorsitzenden von Siemens und SAP, Roland Busch und Christian Klein, scharfe Kritik am geplanten AI Act der Europäischen Union. Sie bezeichnen das Regelwerk als innovationsfeindlich und fordern nicht weniger als einen kompletten Neustart der europäischen KI-Gesetzgebung. Ein Moratorium, wie es andere Wirtschaftsvertreter vorschlagen, gehe ihnen nicht weit genug – sie verlangen eine substanzielle Neuausrichtung.


Hintergrund der Kritik: Warum Siemens und SAP Alarm schlagen

Die Führungskräfte zweier europäischer Technologieriesen machen auf mehrere problematische Aspekte des aktuellen Regelungsentwurfs aufmerksam:

1. Innovationshemmnis durch überregulierte Märkte

Der AI Act bremse laut Busch gezielt die Innovationskraft europäischer Unternehmen aus. Die rechtlichen Unsicherheiten und strikten Auflagen wirkten wie eine „Handbremse“ auf Unternehmen, die weltweit wettbewerbsfähig sein wollen. Anstatt mit voller Kraft voranzugehen, müssten sich Firmen mit bürokratischen Hürden und Rechtsunsicherheiten auseinandersetzen.

2. Widersprüchliche und unübersichtliche Rechtslage

Der AI Act steht nicht allein: Auch andere Rechtsakte, insbesondere der Data Act, seien aus Sicht von Siemens und SAP problematisch. Busch bezeichnet den Data Act gar als „toxisch für die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle“, weil er Zugriffsrechte auf Daten teilweise so regelt, dass Unternehmen ihre Datennutzung kaum noch strategisch planen können. Die Überschneidung verschiedener Gesetze schaffe zudem Rechtsunsicherheit und erhöhe den administrativen Aufwand.

3. Forderung nach mehr als einem Moratorium

Während viele Branchenvertreter fordern, das Inkrafttreten des AI Acts aufzuschieben, gehen Busch und Klein weiter: Sie wollen keine bloße Atempause, sondern einen „substanziellen Umbau“ des Gesetzes. In ihrer Sicht ist der Entwurf in seiner jetzigen Form weder zukunftsfähig noch marktfähig.

4. Warnung vor einem „US-Klon“

SAP-Chef Klein warnt davor, blind der US-Strategie zu folgen, in der Milliardenbeträge primär in Rechenzentren investiert werden. In Europa seien Rechenkapazitäten oft nicht der Flaschenhals – vielmehr verhinderten restriktive Datenregelungen und mangelnde rechtliche Klarheit, dass das volle Innovationspotenzial gehoben werde.


Konkrete Forderungen von Siemens und SAP

Die beiden Konzerne fordern ein ganzes Bündel an Reformen:

  • Ein innovationsfreundliches Regelwerk: Die Gesetzgebung müsse Technologien fördern, nicht behindern. Sie solle flexibel genug sein, um mit dem rasanten Fortschritt der KI-Entwicklung Schritt zu halten.
  • Reform der Datenregulierung: Der Zugang zu und die Nutzung von Daten müsse erleichtert werden – insbesondere, wenn es sich um nicht-personenbezogene oder anonymisierte Daten handelt.
  • Reduktion bürokratischer Hürden: Klein und Busch fordern eine dynamischere Regulierung, die nicht auf starren Kategorisierungen basiert, sondern auf risikoadaptiven Ansätzen.

Branchenstimmen: Breite Kritik, aber auch Zustimmung

Die Forderungen von Siemens und SAP stoßen in der europäischen Industrie auf breite Resonanz. Viele mittelständische Unternehmen und Start-ups sehen im AI Act eine Wettbewerbsverzerrung zugunsten außereuropäischer Anbieter – insbesondere aus den USA und China, wo die regulatorischen Anforderungen deutlich geringer sind. Die befürchtete Konsequenz: Europäische Anbieter könnten im globalen Innovationswettbewerb abgehängt werden.

Doch es gibt auch Gegenstimmen: Experten wie Nick Moës von The Future Society betonen, dass Europa nicht auf eine wirksame KI-Governance verzichten dürfe. Gerade im Hinblick auf Grundrechte, Diskriminierungsfreiheit und Cybersicherheit sei eine strenge Regulierung unerlässlich. Die EU-Kommission arbeitet daher ergänzend an einem freiwilligen Verhaltenskodex für Anbieter von Basismodellen und prüft, ob bestimmte Regelungen zeitlich gestaffelt eingeführt werden könnten.


Einordnung: Was bedeutet das für die Zukunft von KI in Europa?

Chancen für vertrauenswürdige KI

Trotz aller Kritik eröffnet der AI Act auch Chancen – insbesondere für Unternehmen, die auf erklärbare, ethisch verantwortliche und sichere KI setzen. Ein verbindlicher Rechtsrahmen könnte Vertrauen in KI-Anwendungen stärken und so auch die Akzeptanz in der Gesellschaft fördern.

Spagat zwischen Innovation und Regulierung

Die zentrale Herausforderung besteht darin, wirtschaftliche Innovationskraft mit gesellschaftlicher Verantwortung in Einklang zu bringen. Ein zu restriktives Regelwerk kann technologische Entwicklungen behindern; ein zu lascher Ansatz dagegen birgt Risiken für Privatsphäre, Sicherheit und Demokratie.


Fazit: Europa am Scheideweg seiner digitalen Zukunft

Die Forderung von Siemens und SAP nach einem grundlegenden Neustart der KI-Regulierung ist mehr als ein Warnruf – sie ist ein Signal, dass Europas Technologiestandort auf dem Spiel steht. Die EU muss jetzt entscheiden, ob sie ihre Innovationsfähigkeit durch zu enge Vorgaben beschränkt oder einen Rahmen schafft, der sowohl Fortschritt als auch Verantwortung ermöglicht.

Eines ist sicher: Die Diskussion um den AI Act wird zum Lackmustest für Europas digitalen Ehrgeiz – und für seine Fähigkeit, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen in das Zeitalter der Künstlichen Intelligenz zu führen.

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