Aluminiumschrott als geopolitisches Risiko: Wie ein unterschätzter Rohstoff Europas Industrie ins Wanken bringen könnte
Die europäische Aluminiumindustrie schlägt Alarm – und das nicht ohne Grund. Eine stille, aber tiefgreifende Verschiebung im globalen Handel mit Aluminiumschrott droht, Europas industrielle Basis zu untergraben. Was auf den ersten Blick wie ein technisches Detail erscheint, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als geopolitischer Hebel mit weitreichenden wirtschaftlichen, ökologischen und sicherheitspolitischen Folgen.
Die Faktenlage: Was ist an der Titelaussage dran?
US-Zollpolitik: Seit August 2025 gelten in den USA Strafzölle von 50 % auf Aluminiumhalbzeuge und -produkte, während Aluminiumschrott lediglich mit 15 % belegt wird. Diese Differenz schafft ein profitables Arbitragefenster für Exporteure: Der Export von Schrott ist attraktiver als dessen Verarbeitung in Europa.
Exportanstieg: Nach Angaben von European Aluminium hat sich der Schrottabfluss in die USA in den ersten fünf Monaten 2025 „erheblich verstärkt“. Die Recyclingindustrie warnt vor einem „dauerhaften Rohstoffverlust“ und fordert politische Gegenmaßnahmen wie Exportrestriktionen oder einheitliche EU-Regeln.
Recycling vs. Export: Europa verfügt über eine der weltweit effizientesten Recyclingtechnologien und könnte einen geschlossenen Kreislauf für Aluminium etablieren. Doch die kurzfristigen ökonomischen Anreize durch US-Zölle führen dazu, dass Recyclingwerke nicht ausgelastet werden, während der Schrottmarkt exportgetrieben boomt.
Green Deal in Gefahr: Die Branche weist darauf hin, dass der Verlust von Schrott dazu zwingt, verstärkt Primäraluminium zu importieren – oft aus Regionen mit deutlich höherem CO₂-Fußabdruck. Damit gerät der europäische Green Deal unter Druck, da die Klimabilanz in der Industrieproduktion schlechter ausfällt.
EU-Kommission zögert: Zwar wurde ein Zollüberwachungssystem eingeführt, um Handelsströme genauer zu erfassen. Doch konkrete Schritte – etwa Exportzölle, Quoten oder ein Recycling-Bonus – lassen auf sich warten.
Analyse: Warum ist das ein systemisches Problem?
Die aktuelle Entwicklung offenbart ein strukturelles Dilemma:
- Rohstoffflucht: Hochwertiger Sekundärrohstoff verlässt Europa, obwohl er zentral für die Dekarbonisierung der Industrie ist.
- Produktionslücke: Recyclingwerke bleiben unterausgelastet, wodurch Investitionen in moderne Kreislaufwirtschaft gefährdet sind.
- Importabhängigkeit: Europa wird gezwungen, vermehrt Primäraluminium aus Ländern wie China, Russland oder den Golfstaaten zu beziehen – oft mit zweifelhaften ökologischen und sozialen Standards.
- Wettbewerbsverzerrung: Während Staaten wie China und Indien Exportrestriktionen für Aluminiumschrott verhängt haben, bleibt Europa offen – und verliert damit strategische Ressourcen.
Wirtschaftliche und strategische Folgen für Europa
Die Risiken sind vielschichtig und reichen weit über den Rohstoffmarkt hinaus:
| Bereich | Risiko |
|---|---|
| Industrieproduktion | Produktionsrückgang durch Rohstoffmangel |
| Arbeitsplätze | Wegfall von Stellen in Recycling, Logistik und Verarbeitung |
| Innovation | Schwächung von Forschung und Entwicklung in der Kreislaufwirtschaft |
| Klimaziele | Mehr CO₂-Emissionen durch vermehrten Import von Primäraluminium |
| Strategische Autonomie | Größere Abhängigkeit von Drittstaaten, geopolitische Verwundbarkeit |
Besonders kritisch ist, dass Aluminium in vielen Schlüsselindustrien benötigt wird – vom Automobilbau über die Luftfahrt bis hin zu erneuerbaren Energien und Batterietechnologien. Ein instabiler Zugang zu Schrott und Recyclingmaterialien gefährdet daher auch Zukunftsbranchen.
Was müsste geschehen?
Experten fordern ein ganzes Bündel an Maßnahmen, um den drohenden Rohstoffverlust einzudämmen:
- Exportrestriktionen für Aluminiumschrott, um die heimische Versorgung zu sichern – analog zu den Regelungen, die andere Weltregionen bereits durchgesetzt haben.
- Quotenregelungen im Rahmen des Green Deals, die einen bestimmten Anteil an recyceltem Aluminium in der Produktion verbindlich machen.
- Investitionsschutz und Förderprogramme für Recyclingunternehmen, um die Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Exporten zu erhöhen.
- Strategische Rohstoffpolitik der EU, die Aluminium in eine Reihe mit Halbleitern, seltenen Erden oder Batteriemetallen stellt.
- Internationale Koordination, etwa durch Handelsabkommen oder WTO-Verfahren, um Wettbewerbsverzerrungen abzumildern.
Fazit: Ein unterschätzter Rohstoff mit großer Hebelwirkung
Aluminiumschrott ist mehr als nur Abfall – er ist ein strategischer Rohstoff im Kampf um industrielle Souveränität, wirtschaftliche Stabilität und Klimaschutz. Die aktuelle Exportdynamik zeigt, wie schnell kurzfristige ökonomische Anreize langfristige ökologische und politische Ziele untergraben können.
Europa steht vor einer entscheidenden Weichenstellung: Soll die Vision des Green Deal Realität werden, muss die EU auch bereit sein, ihre Rohstoffpolitik neu zu denken – entschlossener, strategischer und schneller als bisher.

