Ohne Zuwanderung – Steht Deutschland vor einem „Kipppunkt“ bei der Zahl der Erwerbspersonen?
Die Bundesrepublik Deutschland steht vor einer ihrer größten demografischen Herausforderungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Rund 23 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten sind derzeit zwischen 55 und 65 Jahre alt – das entspricht etwa 7,8 Millionen Menschen bei insgesamt 34,2 Millionen Beschäftigten. Vor zehn Jahren lag dieser Anteil noch bei 17 Prozent. Ursache ist die Alterung der sogenannten Babyboomer-Generation, die nun schrittweise das Rentenalter erreicht. Laut Prognosen der Bundesagentur für Arbeit und des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) könnte der Arbeitsmarkt bis 2030 bis zu vier Millionen Arbeitskräfte verlieren – was fast jede zehnte Stelle beträfe.
Ursachen und Entwicklungen
- Alterung der Erwerbsbevölkerung: Das Durchschnittsalter der Beschäftigten steigt seit Jahrzehnten kontinuierlich.
- Hohe Verrentungswelle: In den kommenden zehn Jahren wird nahezu ein Viertel der heutigen Beschäftigten aus dem Erwerbsleben ausscheiden.
- Zu geringe Nachwuchszahlen: Die Zahl jüngerer Erwerbspersonen bleibt stabil auf niedrigem Niveau – ein natürlicher Ausgleich durch die geburtenschwachen Jahrgänge ist nicht möglich.
- Bremsende Faktoren: Zwar haben höhere Erwerbsquoten bei Frauen, eine längere Erwerbsdauer älterer Beschäftigter und Nettozuwanderung den Rückgang bislang abgefedert. Diese Effekte reichen jedoch nicht aus, um den absehbaren Einbruch vollständig zu kompensieren.
Herausforderungen für Wirtschaft und Sozialsysteme
- Fachkräftemangel: Besonders betroffen sind Branchen mit strukturellem Arbeitskräftemangel – etwa das Gesundheitswesen, Pflege, Handwerk, Bau sowie Technologie- und IT-Sektoren.
- Unternehmensstrategien: Betriebe müssen Arbeitsbedingungen anpassen: flexible Arbeitszeitmodelle, Remote-Arbeit, lebenslanges Lernen und die gezielte Weiterqualifizierung älterer Beschäftigter werden zur Notwendigkeit.
- Belastung der Sozialsysteme: Das Rentensystem nach dem Prinzip des Generationenvertrags steht unter massivem Druck. Wenn immer weniger Erwerbstätige für immer mehr Rentnerinnen und Rentner aufkommen müssen, drohen höhere Beitragssätze oder Leistungskürzungen.
- Volkswirtschaftliche Folgen: Ohne Gegenmaßnahmen drohen geringeres Wachstum, sinkende internationale Wettbewerbsfähigkeit und ein eingeschränktes finanzielles Handlungspotenzial des Staates.
Politische und ökonomische Forderungen
Ökonominnen und Ökonomen weisen seit Jahren auf die Notwendigkeit einer strategischen Arbeitsmarktpolitik hin. Zu den zentralen Maßnahmen zählen:
- Anhebung des Renteneintrittsalters, gekoppelt an die steigende Lebenserwartung.
- Gezielte Zuwanderungsförderung, insbesondere durch ein modernes Einwanderungsgesetz, das Fachkräfte aus Drittstaaten einfacher integriert.
- Investitionen in Weiterbildung und Umschulung, um Beschäftigte an den technologischen Wandel (Digitalisierung, KI, Automatisierung) anzupassen.
- Begrenzung von Frührentenregelungen und flexiblere Übergänge zwischen Erwerbsleben und Ruhestand.
Zukünftige Perspektiven und gesellschaftliche Auswirkungen
- Stabilisierung nur durch Zuwanderung: Schon heute wäre die Zahl der Erwerbstätigen ohne Migration rückläufig.
- Steigender Altenquotient: Das Verhältnis von Menschen ab 65 Jahren zu 100 Erwerbspersonen im Alter von 20 bis 64 Jahren liegt derzeit bei etwa 42. Bis 2035 könnte es laut Statistischem Bundesamt auf bis zu 57 steigen.
- Risiken bei Untätigkeit: Ein Bruch der sozialen Sicherungssysteme, eine Innovationsschwäche und ein Abgleiten Deutschlands im internationalen Wettbewerb sind realistische Szenarien.
- Gesellschaftliche Umsteuerung: Nötig sind ein stärkerer Fokus auf Bildungsgerechtigkeit, lebenslange Lernkonzepte, die Integration von Älteren in den Arbeitsmarkt, eine Modernisierung der Arbeitswelt sowie eine intelligente, langfristig angelegte Migrationspolitik.
Komplexe Einordnung
Deutschland steht tatsächlich vor einem demografischen Kipppunkt: Das Gleichgewicht zwischen Erwerbstätigen und Rentnern verschiebt sich grundlegend. Diese Entwicklung betrifft nicht nur das Rentensystem, sondern auch den Innovationsstandort, die Produktivität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Die Aufgabe ist daher klar: Politik, Unternehmen und Gesellschaft müssen gemeinsam handeln. Entscheidend werden flexibles Arbeiten, lebenslange Fortbildung, familienfreundliche Rahmenbedingungen sowie eine offene und planvolle Zuwanderungspolitik sein. Nur so lässt sich der drohende Rückgang der Erwerbsbevölkerung aufhalten – und damit die wirtschaftliche Stärke und soziale Stabilität Deutschlands sichern.