Martin Werding: „Es wäre gut, wenn die Witwenrente wegfällt“
Ein Plädoyer für tiefgreifende Reformen – und eine Abrechnung mit dem politischen Stillstand?
Der Wirtschaftsweise Martin Werding warnt eindringlich vor einem möglichen Anstieg der Sozialabgaben auf bis zu 50 Prozent. Um dem entgegenzuwirken, fordert er tiefgreifende Reformen der Rentenpolitik: eine Erhöhung der Rentenabschläge, ein Rentenalter von 69 Jahren sowie die Abschaffung der Witwenrente in ihrer jetzigen Form. Auch die Verbeamtung von Lehrkräften stellt er in Frage. In Interviews macht er deutlich: Ohne entschlossene Strukturreformen droht dem deutschen Sozialstaat die finanzielle Überlastung.
Warnungen seit 2005 – Eine Chronik politischen Zögerns
Martin Werding war bereits im Jahr 2005 maßgeblich an der Erstellung des ersten Tragfähigkeitsberichts der Bundesregierung beteiligt. Schon damals zeigte der Bericht anhand solider Daten und Modellrechnungen: Der demografische Wandel – gekennzeichnet durch sinkende Geburtenraten, eine steigende Lebenserwartung und das absehbare Ausscheiden der Babyboomer-Generation aus dem Erwerbsleben – wird das System der gesetzlichen Rentenversicherung langfristig unter erheblichen Druck setzen.
Trotz dieser frühzeitigen Warnungen blieben strukturelle Reformen über viele Jahre aus. Stattdessen dominierten symptomorientierte Maßnahmen die Rentenpolitik: Die Einführung der Riester-Rente, punktuelle Anpassungen bei Rentenfaktoren und Beiträgen, sowie zeitweise Leistungsausweitungen – wie die Rente mit 63 oder die Mütterrente – konnten den strukturellen Reformbedarf nicht ausgleichen.
Die grundlegenden Stellschrauben – darunter das Renteneintrittsalter, eine breitere Erwerbsbeteiligung, die Einbeziehung bislang ausgenommener Gruppen wie Beamte und Selbstständige sowie eine stärkere Kapitaldeckung – wurden politisch zwar thematisiert, jedoch selten konsequent umgesetzt.
Heute zeigt sich: Die Versäumnisse der Vergangenheit führen nun zu deutlich radikaleren Reformvorschlägen. Was 2005 als Prognose galt, ist inzwischen realpolitischer Druck geworden – mit weniger Spielraum für moderate Lösungen.
Werdings Kritik: Erkenntnisse ohne Konsequenzen
Werding äußert regelmäßig Unverständnis darüber, dass frühere Tragfähigkeitsberichte „zwar zur Kenntnis genommen, aber politisch nicht ernsthaft umgesetzt wurden“. Auch im aktuellen Tragfähigkeitsbericht 2024 wird zwar auf Fortschritte verwiesen – wie die gestiegene Erwerbsbeteiligung oder Anpassungen im Rentenwert – doch bleiben zentrale Probleme ungelöst. Die langfristige Tragfähigkeit des Rentensystems ist weiterhin nicht gewährleistet, insbesondere unter demografischen Gesichtspunkten.
Er warnt: „Wenn jetzt keine entschlossenen Maßnahmen folgen, wird es sehr viel teurer – ökonomisch wie politisch.“
Zwischen Papier und Politik: Haben Tragfähigkeitsberichte ausgedient?
Angesichts der Tatsache, dass seit fast zwei Jahrzehnten wiederholt dieselben Risiken identifiziert werden, stellt sich eine grundsätzliche Frage:
Brauchen wir weiterhin aufwendige Tragfähigkeitsberichte, die zehntausende Euro kosten, obwohl moderne KI-Systeme längst in der Lage wären, diese Analysen schneller und effizienter zu erstellen?
Tatsächlich ist die Methodik solcher Berichte heute weitgehend standardisiert: Bevölkerungsprojektionen, Erwerbsquoten, Finanzierungsmodelle der Rentenversicherung lassen sich datenbasiert simulieren und tagesaktuell fortschreiben. Eine gut trainierte Künstliche Intelligenz kann mit Zugriff auf aktuelle Daten komplexe Modellierungen in Echtzeit durchführen – präzise, objektiv und ohne politische Rücksichtnahme.
Die eigentliche Herausforderung liegt längst nicht mehr im „Ob“, sondern im „Was nun?“. Doch genau hier bleibt die offizielle Politik oft vage. Während die Berichte sich in Modellvarianten und Szenarien verlieren, kommen klare, mutige Handlungsempfehlungen – wie sie Werding äußert – meist außerhalb dieser Papiere zur Sprache: In Interviews, Gastbeiträgen oder wissenschaftlichen Nebenveröffentlichungen.
Ein zynischer, aber nicht ganz unrealistischer Gedanke: Die Funktion solcher Gutachten könnte weniger in der Lösungssuche liegen, als vielmehr in der Zeitgewinnung – in Form einer akademisch legitimierten Hinauszögerung schwieriger Entscheidungen.
Digitalisierung als Wendepunkt – oder Ausrede?
Im digitalen Zeitalter stellt sich zunehmend die Frage: Warum vergräbt sich die Politik weiterhin in umfangreichen Papieren, anstatt algorithmengestützte Werkzeuge zu nutzen, die datenbasiert, flexibel und transparent sind?
Wenn künstliche Intelligenz – richtig eingesetzt – heute in der Lage ist, demografische Risiken in Echtzeit zu analysieren, dann liegt es nicht mehr an der fehlenden Information. Sondern am fehlenden Willen zur Umsetzung.
Oder zugespitzt formuliert: Warum wartet man auf den nächsten Bericht – wenn man längst handeln müsste?

