Covid-19GesundheitPolitikRatgeber

Staatsversagen bei ME/CFS ? – Was jetzt zu tun ist

Die öffentliche Aussage von Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach, das bisherige Vorgehen im Umgang mit ME/CFS stelle ein „Staatsversagen“ dar, gleicht einem gesundheitspolitischen Paukenschlag. Inmitten einer post-pandemischen Gesundheitskrise, in der die Zahl der Betroffenen signifikant gestiegen ist, trifft diese Diagnose einen Nerv. Jahrelange Vernachlässigung in Forschung, Versorgung und Aufklärung hat eine systemische Schieflage erzeugt – mit weitreichenden sozialen und ökonomischen Folgen.

Dieser Beitrag analysiert zentrale Defizite, ordnet sie gesundheitspolitisch ein und zeigt konkrete Handlungsoptionen für Entscheidungsträger, Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger auf.

Hintergrund: ME/CFS – Eine unterschätzte Volkskrankheit

Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine schwere neuroimmunologische Multisystemerkrankung. Typisch sind:

  • Post-Exertional Malaise (PEM): eine massive Verschlechterung der Symptome nach geringer körperlicher oder kognitiver Anstrengung
  • Dysfunktion des autonomen Nervensystems (z. B. Kreislaufprobleme, orthostatische Intoleranz)
  • Immunsystemstörungen und chronische Entzündungsprozesse
  • Schlafstörungen, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme

ME/CFS betrifft alle Altersgruppen, kann aber insbesondere junge Menschen über Nacht aus Ausbildung und Beruf reißen. In Folge der COVID-19-Pandemie, insbesondere durch Long-COVID, hat sich die Zahl der Erkrankten laut Expertenschätzungen auf bis zu 500.000 Personen in Deutschland erhöht – ein dramatischer Anstieg. Dennoch wurde die Erkrankung über Jahrzehnte medizinisch marginalisiert und gesellschaftlich tabuisiert.

Der aktuelle Stand: Forschung und Versorgung im Rückstand

Obwohl ME/CFS bereits 1969 von der WHO als neurologische Erkrankung klassifiziert wurde (ICD-10 G93.3), sind Forschung und Versorgung bis heute lückenhaft:

  • Bis 2021 wurde nur ein Bruchteil der öffentlichen Forschungsförderung für ME/CFS bereitgestellt.
  • Es existieren kaum spezialisierte klinische Ambulanzen oder Versorgungszentren – besonders im ländlichen Raum.
  • Die medizinische Ausbildung enthält ME/CFS bislang nur rudimentär.
  • Viele Ärztinnen und Ärzte kennen die Kernsymptomatik (PEM) nicht, was zu Fehldiagnosen oder psychosomatischen Fehldeutungen führt.
  • Eine evidenzbasierte Therapie ist aktuell nicht verfügbar; viele Patienten sind auf symptomatische Selbsthilfe angewiesen.

Ursachen des Staatsversagens: Systemische Fehlstrukturen

Die Ursachen für die strukturelle Vernachlässigung von ME/CFS sind vielschichtig:

  • Politische Nicht-Priorisierung: ME/CFS wurde lange als „Randthema“ betrachtet und entsprechend unterfinanziert.
  • Zersplitterte Zuständigkeiten: Unterschiedliche Regelungen in den Bundesländern erschweren eine bundesweite Versorgungsstrategie.
  • Fehlende Translationsmechanismen: Ergebnisse aus der Grundlagenforschung fließen kaum in Leitlinien oder klinische Anwendungen ein.
  • Stigmatisierung und mangelnde Aufklärung: Die Fehleinordnung als psychosomatische Störung hält sich in Teilen der Ärzteschaft und Gesellschaft hartnäckig.

Auswirkungen auf Gesellschaft, Wirtschaft und Sozialsysteme

Das Versagen in Versorgung und Prävention hat spürbare Folgen:

  • Arbeitsunfähigkeit: Schätzungen zufolge sind bis zu 70 % der Betroffenen langfristig nicht arbeitsfähig.
  • Fachkräftemangel: Unternehmen verlieren qualifizierte Mitarbeitende – meist ohne erkennbare Perspektive auf Wiedereingliederung.
  • Kosten für Sozialkassen: Die chronische Erkrankung verursacht immense Ausgaben für Krankengeld, Pflegeleistungen und Erwerbsminderungsrenten.
  • Psychosoziale Belastung: Viele Betroffene erleben soziale Isolation, finanzielle Notlagen und sekundäre psychische Erkrankungen.

Was jetzt zu tun ist: Handlungsempfehlungen für Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft

Für die Politik

  • Forschungsoffensive starten Bereitstellung von mindestens 100 Millionen Euro jährlich für ME/CFS-Forschung, einschließlich Biomarkerentwicklung und Therapieansätze.
  • Zentrales Kompetenzzentrum schaffen Ein bundesweites Zentrum für ME/CFS mit interdisziplinärer Struktur soll Forschung, Versorgung und Aufklärung bündeln.
  • Curricula reformieren Aufnahme von ME/CFS in Ausbildung und Weiterbildung aller medizinischen Berufe.
  • Versorgungsmodelle erproben und fördern Testen innovativer ambulanter, teilstationärer und digital gestützter Versorgung über den Innovationsfonds und das Digitale-Versorgung-Gesetz.
  • Erkrankung in politische Gremien tragen Einrichtung eines parlamentarischen Arbeitskreises ME/CFS zur strukturellen Verankerung im Gesundheitssystem.

Für die Wirtschaft

  • Gesundheitsgerechtes Arbeiten ermöglichen Homeoffice, flexible Arbeitszeiten und individuelle Rückkehrprogramme helfen, erkrankte Mitarbeitende länger zu halten.
  • Betriebsärztliche Schulung fördern ME/CFS muss Teil der Pflichtweiterbildung für Betriebsärzte sein, um Diagnosen und Arbeitsbedingungen zu verbessern.
  • Innovationen nutzen Entwicklung technischer Lösungen wie Schlaftracking, Symptomüberwachung und digitale Therapietools durch forschungsaffine Unternehmen.

Für Verbraucherinnen und Betroffene

  • Selbsthilfe stärken Digitale Plattformen und Patientenorganisationen bieten Orientierung und emotionalen Rückhalt.
  • Aufklärung im Umfeld vorantreiben Privates Engagement – ob in Schule, am Arbeitsplatz oder im medizinischen Kontakt – ist ein Schlüssel zur Entstigmatisierung.
  • Digitale Gesundheitskompetenz ausbauen Nutzung der ePA, Symptomtagebücher oder Apps kann die Arztkommunikation verbessern und Behandlung unterstützen.

Fazit: Ein gesundheitspolitisches Umdenken ist überfällig

Die Diagnose des Bundesgesundheitsministers muss mehr sein als ein Statement. ME/CFS ist eine weitverbreitete, schwere Erkrankung mit gravierenden Auswirkungen auf Gesundheit, Produktivität und Lebensqualität. Es braucht nun entschlossene politische Schritte, wirtschaftliche Innovationskraft und zivilgesellschaftliches Mitwirken.

Nur durch eine koordinierte, evidenzbasierte Strategie lässt sich die jahrzehntelange Vernachlässigung überwinden – und damit Hoffnung auf eine bessere Lebensrealität für Hunderttausende Betroffene schaffen.

Schreibe einen Kommentar