Scheinselbstständigkeit in der Pflege: Eine unterschätzte Gefahr
Die Nachfrage nach individueller häuslicher Pflege wächst rasant – bedingt durch den demografischen Wandel, den Pflegenotstand und die zunehmende Belastung von Angehörigen. Besonders beliebt ist das Modell der sogenannten 24-Stunden-Pflege durch ausländische Betreuungskräfte, die häufig über einen Gewerbeschein als „selbstständig“ arbeiten. Doch genau hier liegt ein erhebliches rechtliches und soziales Risiko – sowohl für die pflegebedürftige Familie als auch für die Pflegekraft: die Scheinselbstständigkeit.
„Die vermeintliche Selbstständigkeit kann sich im Nachhinein als sozialrechtliche und strafrechtliche Falle für alle Beteiligten entpuppen.“
Was bedeutet Scheinselbstständigkeit konkret?
Von Scheinselbstständigkeit spricht man, wenn eine Person formal als selbstständig auftritt, faktisch jedoch wie eine angestellte Person in ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis eingebunden ist – ohne die damit verbundenen arbeits- und sozialrechtlichen Absicherungen. In der häuslichen Pflege treten typische Anzeichen besonders häufig auf:
- Feste Arbeitszeiten, vorgegeben durch die Familie oder eine Agentur
- Weisungsgebundenheit hinsichtlich der täglichen Abläufe, Tätigkeiten und Pausen
- Eingliederung in den Haushalt der Pflegebedürftigen – ohne eigene betriebliche Strukturen
- Ausschließliche Tätigkeit für einen Auftraggeber, meist über Monate oder Jahre
- Keine unternehmerische Entscheidungsfreiheit, etwa bei Preisgestaltung, Werbung oder Personalwahl
Solche Rahmenbedingungen entsprechen nicht den Kriterien einer echten Selbstständigkeit, sondern erfüllen aus Sicht der Sozialversicherungsträger häufig die Merkmale eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses.
Rechtliche und finanzielle Risiken – für beide Seiten
Wird im Nachhinein durch die Deutsche Rentenversicherung oder das Hauptzollamt eine Scheinselbstständigkeit festgestellt, drohen erhebliche Konsequenzen:
Für die Familie (Auftraggeber):
- Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen (Kranken-, Pflege-, Renten- und Arbeitslosenversicherung) rückwirkend für bis zu vier Jahre, bei Vorsatz sogar bis zu 30 Jahre
- Strafverfahren wegen Steuerhinterziehung oder Schwarzarbeit
- Zivilrechtliche Ansprüche der Pflegekraft: Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, Urlaubsanspruch, Kündigungsschutz, ggf. auch Mindestlohnnachzahlungen
Für die Pflegekraft:
- Aberkennung des Selbstständigenstatus
- Rückwirkende Beitragspflichten zur gesetzlichen Kranken- und Rentenversicherung
- Fehlende soziale Absicherung, etwa im Krankheits- oder Pflegefall
- Existenzielle Unsicherheit, wenn Aufträge plötzlich wegfallen oder Zahlungen ausbleiben
Warnung von Verbraucherschutzorganisationen
Mehrere Untersuchungen – etwa durch die Verbraucherzentrale, den SoVD oder den Paritätischen Gesamtverband – belegen: Zahlreiche Vermittlungsagenturen operieren in einer rechtlichen Grauzone. Eine Studie des Instituts für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG) im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit ergab, dass jede fünfte Vermittlungsagentur Modelle anbietet, die als arbeitsrechtlich problematisch einzustufen sind.
„Für Laien ist kaum zu erkennen, ob es sich bei der eingesetzten Betreuungskraft um eine ordnungsgemäß sozialversicherungspflichtig beschäftigte Person handelt oder um eine Scheinselbstständige.“
Viele Agenturen informieren unvollständig, verschleiern die Vertragsverhältnisse oder werben irreführend mit angeblicher Rechtskonformität. Die Haftung bleibt im Zweifel bei der Familie.
Gesetzgeber und Behörden: Dringender Handlungsbedarf
Das Bundesministerium für Gesundheit sowie die Deutsche Rentenversicherung Bund bestätigen: Die Gefahr der Scheinselbstständigkeit in der häuslichen Pflege ist hoch und systemisch bedingt. Zwar existieren inzwischen legalisierte Modelle über entsandte Arbeitskräfte aus dem EU-Ausland (im Rahmen der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV), doch auch hier ist die rechtliche Lage komplex und umstritten. Der Gesetzgeber plant zwar Nachbesserungen, doch bislang fehlt eine flächendeckende Regulierung.
Fazit: Flexibilität um jeden Preis? Nein – rechtssicher pflegen!
Die Beschäftigung scheinbar selbstständiger Pflegekräfte im Rahmen der 24-Stunden-Betreuung mag auf den ersten Blick praktikabel und kostengünstig erscheinen – birgt aber erhebliche rechtliche, finanzielle und moralische Risiken.
Was Sie als Familie tun sollten:
- Vermeiden Sie direkte Verträge mit angeblich „freiberuflichen“ Pflegekräften, besonders bei nur einem Einsatzort ohne unternehmerisches Auftreten
- Nutzen Sie Modelle mit sozialversicherungspflichtiger Anstellung, etwa über anerkannte Pflegedienste oder legale Entsendung nach EU-Recht
- Lassen Sie Verträge juristisch prüfen, insbesondere die Rolle der Agentur und die rechtliche Einordnung der Tätigkeit
Tipp: Fragen Sie die Vermittlungsagentur gezielt:
„Ist die Betreuungskraft bei Ihnen angestellt?“ oder
„Wie wird die Sozialversicherungspflicht geregelt?“
Ein seriöser Anbieter wird Ihnen transparent und nachweislich Auskunft geben.
Schlussbemerkung
Die 24-Stunden-Betreuung verdient bessere rechtliche Rahmenbedingungen – für Familien, Pflegebedürftige und die Betreuungskräfte selbst. Bis dahin gilt: Lieber auf der sicheren Seite bleiben, statt später die Rechnung für ein undurchsichtiges Modell zahlen zu müssen.