Demenz vorbeugen: Sind fast die Hälfte der Fälle vermeidbar?
Die Diagnose Demenz wirkt für viele Menschen wie ein unausweichliches Schicksal. Doch die Forschung zeigt zunehmend: Das Risiko ist beeinflussbar – und zwar in erheblichem Maß. Die renommierte Lancet-Kommission kommt in ihrem Bericht zu dem Schluss: Rund 40 bis 45 % aller Demenzfälle stehen in Zusammenhang mit veränderbaren Lebensstil- und Umweltfaktoren. Das bedeutet nicht, dass sich Demenz immer verhindern lässt. Doch es eröffnet die Chance, durch gezielte Maßnahmen die Wahrscheinlichkeit deutlich zu senken oder den Ausbruch um Jahre hinauszuzögern.
Die Erkenntnisse der Lancet-Kommission
Die Analyse der Lancet-Kommission identifiziert 14 modifizierbare Risikofaktoren:
- geringe Bildung
- Bluthochdruck
- Hörverlust
- Rauchen
- Übergewicht
- Depression
- körperliche Inaktivität
- Diabetes
- soziale Isolation
- übermäßiger Alkoholkonsum
- Kopfverletzungen
- Luftverschmutzung
- Sehverlust
- erhöhte Blutfettwerte (Hypercholesterinämie)
Das Modell der Kommission zeigt: Würden diese Faktoren weltweit konsequent adressiert, ließen sich bis zu 45 % aller Demenzfälle verhindern oder zumindest hinauszögern – das entspricht vielen Millionen Menschenleben, die gesünder altern könnten.
Diese Zahlen stehen im Einklang mit den Leitlinien der Weltgesundheitsorganisation (WHO, 2019), die präventive Maßnahmen im Alltag ausdrücklich als wirksam betont.
Was das Herz schützt, schützt auch das Gehirn
Die Forschung zeigt eine enge Verbindung zwischen Herz-Kreislauf-Erkrankungen und kognitivem Abbau. Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes oder erhöhte Cholesterinwerte beeinträchtigen nicht nur Herz und Gefäße, sondern auch die empfindlichen Blutgefäße im Gehirn.
- Bewegung: Schon 150 Minuten moderater körperlicher Aktivität pro Woche – wie zügiges Gehen, Radfahren oder Schwimmen – können das Alzheimer-Risiko um bis zu ein Drittel senken.
- Ernährung: Die mediterrane Ernährung sowie die MIND-Diät (eine Kombination aus mediterraner und DASH-Diät) reduzieren Entzündungen und fördern die Durchblutung des Gehirns. Beide Ernährungsweisen sind mit einer langsameren kognitiven Abnahme verbunden.
Geistige Reserve aufbauen
Ein zentrales Konzept ist die sogenannte kognitive Reserve. Sie beschreibt die Fähigkeit des Gehirns, trotz altersbedingter Veränderungen oder pathologischer Ablagerungen wie Beta-Amyloid lange leistungsfähig zu bleiben.
Diese Reserve lässt sich aufbauen durch:
- lebenslanges Lernen
- geistig herausfordernde Tätigkeiten (Lesen, Musizieren, Sprachenlernen)
- Hobbys und kreative Aktivitäten
- aktive soziale Kontakte
Besonders bemerkenswert: Sensorische Gesundheit ist ein wichtiger Schutzfaktor. Studien zeigen, dass die frühzeitige Versorgung mit Hörgeräten oder Sehhilfen nicht nur die Lebensqualität verbessert, sondern auch das Risiko von sozialem Rückzug und damit verbundenem kognitivem Abbau reduziert.
Frühdiagnose und personalisierte Ansätze
Die Präventionsforschung entwickelt sich dynamisch weiter.
- Biomarker: Bluttests, die bestimmte Eiweißstoffe wie Beta-Amyloid oder Tau nachweisen, könnten künftig Jahre vor den ersten Symptomen Risikohinweise liefern.
- Genetik: Varianten wie ApoE4 erhöhen das Alzheimer-Risiko deutlich. Diese Erkenntnisse helfen, Präventionsmaßnahmen gezielter einzusetzen.
Doch trotz dieser Fortschritte bleibt klar: Der größte Hebel liegt derzeit beim Lebensstil. Medikamente gegen Demenz sind bislang nur begrenzt wirksam, während vorbeugende Maßnahmen nachweislich Effekte zeigen.
Praktische Empfehlungen für den Alltag
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse lassen sich in konkrete Schritte übersetzen:
- Bewegung in den Alltag integrieren: Spaziergänge, Radfahren, Tanzen, Gartenarbeit oder kleine Fitnessroutinen. Entscheidend ist die Regelmäßigkeit.
- Gesunde Ernährung: Mehr Gemüse, Vollkorn, Hülsenfrüchte, Nüsse, Fisch und Olivenöl; weniger Zucker, rotes Fleisch und stark verarbeitete Lebensmittel.
- Soziale Kontakte pflegen: Gespräche, gemeinsame Aktivitäten und soziales Engagement wirken wie ein Schutzschild für das Gehirn.
- Geistige Herausforderungen suchen: Neue Fähigkeiten erlernen, Schach spielen, Rätsel lösen oder musizieren – all das trainiert die geistige Flexibilität.
- Gesundheitsvorsorge wahrnehmen: Regelmäßige Blutdruck- und Blutzuckerkontrollen, Hör- und Sehtests sowie ärztliche Beratung bei Risikofaktoren.
- Maßvoller Umgang mit Alkohol und Rauchstopp: Beide Faktoren stehen in engem Zusammenhang mit erhöhtem Demenzrisiko.
Fazit: Selbstwirksamkeit statt Schicksal
Die Erkenntnis, dass sich fast die Hälfte aller Demenzfälle vermeiden oder hinauszögern ließe, verändert unseren Blick: Demenz ist nicht ausschließlich ein unabwendbares Schicksal.
Jeder Mensch kann durch seine Lebensweise Einfluss nehmen – und zwar auf eine Weise, die weit über das Gehirn hinaus auch Herz, Kreislauf und allgemeine Gesundheit stärkt. Kleine, konsequente Schritte im Alltag summieren sich zu einem großen Unterschied.
Anstatt passiv auf Medikamente oder Therapien zu hoffen, eröffnet die Forschung einen Perspektivwechsel: Vorbeugung bedeutet Lebensqualität, Selbstbestimmung und ein gesünderes Altern.
Quellen:
- Livingston et al., Dementia prevention, intervention, and care: 2020 report of the Lancet Commission, The Lancet, 2020
- WHO: Dementia: risk reduction and prevention guidelines, 2019

