Medikamentenmangel in Deutschland – Realität, Hintergründe und Folgen
Die Schlagzeilen klingen alarmierend: „Deutschland hat keine Medikamente mehr“. Wörtlich stimmt das nicht – doch die Realität ist dennoch besorgniserregend. Seit mehreren Jahren kämpft Deutschland mit massiven Lieferengpässen, die teils lebenswichtige Arzneimittel betreffen. Besonders in der Erkältungssaison spitzt sich die Lage regelmäßig zu, und auch im Jahr 2025 ist keine Entspannung in Sicht. Für viele Familien, chronisch Erkrankte und Patientinnen und Patienten stellt sich daher die Frage: Bedeutet der nächste Winter nicht nur Infektionsgefahr, sondern auch leere Apothekenschränke?
Was wirklich fehlt
Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) listete bereits im Sommer 2023 mehr als 500 Präparate mit akuten Lieferengpässen. Die Zahlen schwanken zwar, bleiben aber konstant hoch. Besonders betroffen sind:
- Antibiotika-Säfte für Kinder – z. B. Amoxicillin oder Cefuroxim in flüssiger Form.
- Krebsmedikamente – darunter einzelne Chemotherapeutika oder unterstützende Präparate.
- Herz- und Blutdruckmittel – wichtige Standardpräparate für Millionen von Menschen.
- Psychopharmaka und Antiepileptika – deren Umstellung für viele Patientinnen und Patienten problematisch ist.
In vielen Fällen existieren Alternativen. Doch die Umstellung bedeutet zusätzlichen Aufwand für Ärztinnen und Ärzte und birgt Risiken – etwa, wenn kindgerechte Darreichungsformen fehlen oder Dosierungen individuell angepasst werden müssen.
Ursachen des Problems
Die Gründe sind komplex, aber seit Jahren bekannt:
- Produktionsverlagerung nach Asien: Rund 80 % der weltweit benötigten Wirkstoffe stammen mittlerweile aus Indien und China. Schon der Ausfall einzelner Werke oder Transportwege kann globale Ketten ins Wanken bringen.
- Preisdruck durch Rabattverträge: Krankenkassen schreiben Arzneimittel europaweit aus. Hersteller mit den niedrigsten Preisen erhalten Zuschläge, wodurch die Produktion in Hochlohnländern kaum rentabel bleibt.
- Just-in-Time-Prinzip: Großhändler und Apotheken halten aus Kostengründen nur geringe Vorräte. Bereits kleine Lieferverzögerungen führen dadurch zu Engpässen.
- Abhängigkeit bei Innovationen: Hochmoderne Krebstherapien oder Immunpräparate werden fast ausschließlich in den USA entwickelt und hergestellt. Europa ist stark abhängig.
- Krisenfaktoren: Pandemien, geopolitische Spannungen oder Exportstopps (wie zeitweise in Indien) verschärfen die Lage zusätzlich.
Stimmen aus der Praxis
Apothekerinnen und Apotheker warnen seit Jahren, dass die Versorgung „auf Kante genäht“ sei. Der nordrhein-westfälische Apothekerpräsident Thomas Preis spricht von einer „Dauerkrise“. Kinderärztinnen und Kinderärzte betonen, dass vor allem Flüssigantibiotika oder Fiebersäfte für Kinder nicht zuverlässig verfügbar sind – mit direkten Folgen für die Behandlung.
Politische Gegenmaßnahmen
Die Bundesregierung hat 2023 das „Gesetz zur Bekämpfung von Arzneimittelengpässen“ verabschiedet. Es sieht unter anderem vor:
- Pflichtlager für bestimmte Kinderarzneimittel.
- Lockerung der Preisbindung für Präparate in Engpass-Situationen.
- Förderung europäischer Produktionsstätten.
Fachleute bewerten diese Maßnahmen jedoch überwiegend als unzureichend. Solange die Preisregulierung und Rabattverträge den deutschen Markt unattraktiv machen, bleibt Europa abhängig von Importen.
Auswirkungen auf den Alltag
Für Patientinnen und Patienten bedeutet das:
- Chronisch Kranke müssen damit rechnen, dass ihre Medikamente zeitweise nicht verfügbar sind. Ärztinnen und Ärzte müssen Alternativen verschreiben, was zusätzliche Untersuchungen und Unsicherheit mit sich bringt.
- Familien mit Kindern trifft es besonders hart, wenn kindgerechte Medikamente fehlen. Die Umstellung auf Tabletten ist für kleine Kinder kaum praktikabel.
- Apotheken stehen täglich vor logistischen Herausforderungen. Sie müssen aufwendig bei anderen Großhändlern nachbestellen oder eigene Rezepturen anfertigen – was Zeit, Personal und Geld kostet.
- Gesellschaftliche Folgen: Viele Menschen reagieren mit Verunsicherung und Hamsterkäufen. Wie in der Pandemie führt dies zu einer künstlichen Verschärfung der Lage.
Was Sie selbst tun können
- Rechtzeitig einlösen: Holen Sie Rezepte frühzeitig ein, bevor ein Medikament vollständig aufgebraucht ist.
- Mit Ärztinnen und Ärzten sprechen: Oft gibt es wirkstoffgleiche Präparate anderer Hersteller.
- Keine Panikkäufe: Übermäßiges Horten nimmt anderen Patientinnen und Patienten dringend benötigte Arzneien weg.
- Seriöse Bezugsquellen nutzen: Achten Sie bei Online-Käufen auf deutsche Versandapotheken mit gültiger Zulassung.
Ein Winter der Unsicherheit?
Die Aussage „Deutschland hat keine Medikamente mehr“ ist zwar überzogen, verweist jedoch auf ein reales, strukturelles Problem. Sollte es nicht gelingen, die Abhängigkeit von Asien zu reduzieren und europäische Produktionskapazitäten aufzubauen, wird die Medikamentenversorgung in Deutschland dauerhaft anfällig bleiben.
Für die Bevölkerung bedeutet dies: mehr Unsicherheit, häufigere Arztbesuche und eine wachsende psychische Belastung. Der Medikamentenmangel ist damit längst nicht nur eine medizinische, sondern auch eine soziale und politische Herausforderung – mit einer Tragweite, die sich mit der Energie- oder Rentenpolitik vergleichen lässt.

